Hymnos Akathistos

Teil 2


Aus dem vorherigen Beitrag zur Zahlensymbolik im Hymnos Akathistos könnte der Eindruck entstehen, dass unsere Andachten nichts anderes sind als ein Spiel mit den Zahlen. Denken wir z. B. an das klassische Rosenkranzgebet mit 5 Geheimnissen, deren Betrachtung jeweils mit dem Rezitieren von zehn Ave Maria verknüpft wird oder an den Siebenschmerzenrosenkranz, bei dem wir die Betrachtung der einzelnen Schmerzen Mariens jeweils "nur" mit sieben Ave Maria praktizieren. Der fromme Mensch liebt genau strukturierte Gebetsformen. Sie verleihen ihm gewisse Sicherheit und das Gefühl "gut" zu beten. Ein gläubiger Christ jedoch spürt, dass das Gebet nicht zu einer Zahlenmagie degradiert werden darf. Und doch werden in der Kirche kontinuierlich Andachten entwickelt und verbreitet, deren Form und Struktur sich auf eine Zahlensymbolik stützen. Solche Andachtsformen haben meistens einen rhythmischen und wiederholenden Charakter, gehen gleich ins Ohr und lassen sich schneller einprägen.

Der Hymnos Akathistos war in diesem Sinne bestimmt ein Vorreiter, denn nicht nur seine äußere Strophenstruktur, sondern auch die einzelnen Verse und Anrufungen werden von der Zahlensymbolik getragen. In ihrer griechischen Originalverfassung respektieren selbst die Versgruppen die gleiche Silbenzahl. So z. B. die 144 an Maria adressierten Anrufungen, die im ganzen Hymnus in 12 Gruppen zu 12 Anrufungen aufgeteilt sind, behalten ihre binäre Struktur: Die paarweise gereihten Verse sind metrisch identisch sowohl silben- als auch akzentmäßig, inhaltlich bilden sie jedoch einen Parallelismus, indem der zweite Vers den ersten verstärkt, kontrastiert oder sinngemäß ergänzt. Hier einige Beispiele: "Ave, durch welche die Freude aufleuchten, - Ave, durch welche der Fluch erlöschen wird." (kontrastierend); "Ave, die du Adam vom Sturze aufrichtest, - Ave, die du Eva von den Tränen erlösest." (verstärkend); "Ave, o Land der Verheißungen, - Ave, Du, aus der Honig und Milch fließt." (ergänzend). Während der erste Beitrag zur Zahlensymbolik des Akathistos die Bedeutung der Zahlen 1, 2 und 3 in Bezug auf die Konzilslehre von Chalcedon beleuchten wollte, bleibt noch eine zweite Inspirationsquelle zu erwähnen, die sich in diesem Hymnus durch andere Zahlen erkennen lässt. Es ist die Vision aus dem Buch der Offenbarung, die von der heiligen Stadt Jerusalem spricht (21,1-21). Diese Stadt wird als das neue Jerusalem beschrieben, das vom Himmel herabgekommen ist. In diesem Text kommen die oben genannten Zahlen 12 und 144 zum Vorschein: 12 Tore, 12 Engel, 12 Stämme Israels, 12 Apostel, 144 Ellen hohe Mauer. Alle diese Zahlen bedeuten in der biblischen Sprache Fülle und Vollkommenheit. Wenn sie in dem Offenbarungsbuch in Zusammenhang mit der Stadt Jerusalem gebracht werden, so meinen sie etwa eine verwandelte und vollkommene Glaubensgemeinschaft - eben, weil sie "vom Himmel" herabkam. Diese verwandelte Stadt wird in der Vision als Braut beschrieben, die für ihren Bräutigam geschmückt ist. Dieser Bräutigam ist aber das Lamm, ein Sinnbild für Christus. Eine Vision wie diese ist zwar keine Wirklichkeit, sie kann jedoch als ein erstrebenswertes Ziel angesehen werden.

Die Glaubensgemeinschaft der Christen hat in ihrer zweitausendjährigen Bestehungsgeschichte ihre Berufung zur Vollkommenheit immer vor Augen gehabt, ja manchmal so weit, dass sie glaubte bereits vollkommen und vollendet zu sein. Doch dann hat sie immer wieder auch erkennen müssen, dass solche Vollkommenheit doch nicht mit jener identisch war, von der Jesus gesprochen hat. Ein verwirklichtes Ideal der Vollkommenheit hat die christliche Tradition jedoch auch in einem Menschen, außer Jesus,  sehen wollen. So einen Menschen hat sie in Maria der Mutter Jesu entdeckt. Maria gewinnt nicht nur persönlich, sondern auch symbolisch an Bedeutung, indem sie auch zur Personifizierung der neuen Stadt Jerusalem (Off 21,10), der Braut des Lammes (Off 21,9) oder der Kirche Christi wird. In diesem Sinne wurde Maria in den Predigten spätestens seit dem Ende des vierten Jahrhunderts ins Bewusstsein der Gläubigen gerufen. Dies geschieht bei manchen Predigern, wie z.B. Ephräm dem Syrer (+ 373) oder bei Theodot von Ancyra (+ um 446), auch in Form von Anrufungen, die jenen des Akathistos auffällig ähnlich sind. In den Anrufungen kann man als Muster die Grußworte des Engels an Maria erkennen: "Gegrüßt seist du, voll der Gnade..." Die vielfältigen Grußrufe an Maria, wie man ihnen im Akathistos begegnet, sind nicht bloße Früchte einer billigen Frömmigkeit, sondern sie bezeugen einen Glauben an Gott, der in Menschen, die sich ihm öffnen wie Maria, seine Gnaden gedeihen lässt.

fr. Fero M. Bachorík OSM