Maria - Gefährtin der Barmherzigkeit


Eine weitere Betrachtung über Maria im Jahr der Barmherzigkeit kann aus der Beziehung zwischen ihr - der Tochter Israels - und der erlebten Barmherzigkeit entfaltet werden. Als Ausgangspunkt dazu möge uns der berühmte Spruch des deutschen Philosophen Ludwig Feuerbach dienen, welcher lautet: "Der Mensch ist, was er isst." Zwar soll hier keine Ernährungskultur erörtert werden, vielmehr geht es darum das Bewusstsein zu schärfen, dass der Mensch nur davon wachsen kann, was ihm als Nahrung dient. In den Schriften des Alten Testaments werden uns vielfache Zeichen der Barmherzigkeit geschildert, die Gott seinem Volk erwiesen hat. Oft handelt es sich dabei um eine Rettung aus Lebensgefahr, die Befreiung vom Feind oder einfach um die wiedergeschenkte Menschenwürde, sei es durch die erfahrene Sündenvergebung oder durch die Wiederaufrichtung nach dem Sturz in eine existenzielle Not. Dazu ein kurzes Zitat vom Psalm 103: "Lobe den Herrn, meine Seele, [...] der dir all deine Schuld vergibt und all deine Gebrechen heilt, der dein Leben vor dem Untergang rettet und dich mit Huld und Erbarmen krönt" (Verse 2-4). Diese und ähnliche Ereignisse werden im Mariens' Lebensmilieu nicht nur wiederholt erzählt oder gelesen, sondern auch in die Gebete eingefügt, etwa in der Form von Psalmen. Als eindeutiges Beispiel kann hier der Psalm 136 erwähnt werden, in dem die Überzeugung, dass Gott der Barmherzigkeit seinem Volk die Treue bewahrt, nach jedem Vers mit dem Ruf "denn seine Huld währt ewig!" betont wird - insgesamt 26-mal. Solche Erinnerung an die Taten Gottes mit seinem Volk dient den Angehörigen jenes Volkes zweifellos als Nahrung, denn sie trägt zu deren Identitätsbildung bei, stärkt ihren Zugehörigkeitssinn und gibt ihnen einen inneren Halt.

Das päpstliche Schreiben Misericordiae vultus im Art. 7 bemerkt, dass es die Barmherzigkeit ist, welche die Geschichte Gottes mit Israel zu einer Heilsgeschichte macht. Maria empfängt in ihrer Kultur also eine Nahrung der Barmherzigkeit. Dadurch wird sie selbst befähigt auf die Dimension der Barmherzigkeit und deren Zeichen aufmerksam zu sein. Nicht unbegründet werden ihr im Magnificat Aussagen in den Mund gelegt, die ihren Glauben an die Barmherzigkeit Gottes besingen. Wenn sie die Worte spricht: "Er erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht über alle, die ihn fürchten" (Lk 1,50), so wird z.B. an die Verheißungen im Buch der Weisheit erinnert, in dem es heißt: "Alle, die auf ihn vertrauen, werden die Wahrheit erkennen, und die Treuen werden bei ihm bleiben in Liebe. Denn Gnade und Erbarmen wird seinen Erwählten zuteil" (Kap. 3,9). Maria erkennt, dass die Erfüllung dieser Verheißungen zuerst ihrem eigenen Volk gehört: "Er nimmt sich seines Knechtes Israel an und denkt an sein Erbarmen, das er unsern Vätern verheißen hat, Abraham und seinen Nachkommen auf ewig" (Lk 1,54-55). Darüber hinaus fühlt sie sich persönlich als Teil dieses Volkes von dieser Verheißung direkt angesprochen und nimmt diesen Zuspruch des Erbarmens persönlich zur Kenntnis: "Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut" (Lk 1,48). Durch diese Aussage wird das Selbstverständnis Mariens deutlich: Sie selbst nimmt sich als demütige Magd des Herrn wahr; wohl nicht aufgrund ihres niedrigen Selbstwertgefühls oder ihrer übertriebenen Demut. Vielmehr erkennt man in diesen Worten einen Widerhall der Weisheitsverheißung, der Maria ihren persönlichen Glauben schenkte: "Der Geringe erfährt Nachsicht und Erbarmen, doch die Mächtigen werden gerichtet mit Macht" (Weish 6,6). Selbstverständlich kann man hier einwenden, dass diese Betrachtung ein Konstrukt von genötigten Projizierungen in Maria sei.

Auf der anderen Seite soll man aber die Möglichkeit nicht ausschließen, dass das, was in den Evangelien Maria in den Mund gelegt wird, nicht auf konkreten Erfahrungen und begründeten Tatsachen beruht. Sicher bleibt allerdings, dass Maria im "Schatten der Barmherzigkeit" heranwuchs und sich später als ihre Gefährtin erfahren konnte - zuerst durch ihren Glauben an die Verheißungen Gottes, dann durch ihre Weggemeinschaft mit Jesus, der verkörperten Barmherzigkeit. Deshalb, ausgehend aus dieser Betrachtung, können wir bei uns selbst verweilen und uns fragen, welche Nahrung geistiger Natur wir von unserer Kindheit an verzehren; nach welcher Nahrung geistiger Natur wir uns jetzt sehnen; welche Nahrung geistiger Natur wir für die anderen "kochen"; mit welcher Nahrung geistiger Natur wir die anderen "füttern". Einmal "aufgepäppelt" mit solcher Nahrung, wessen Gefährten und Gefährtinnen sind wir geworden? Hat uns oder die anderen diese Nahrung gestärkt oder krank gemacht? Möchten wir unserer Seele weiterhin die bisherige Nahrung zuführen? Haben wir jemals etwas von der "Nahrung der Barmherzigkeit" schmecken können?

fr. Fero M. Bachorík OSM