Marienandachten

Stabat Mater

 

Isenheimer Altar von Matthias Grünewald (Detail: Der Liebelingsjünger Johannes stützt die Mutter Jesu)
Unter den Andachten, die der Betrachtung der Leiden Mariens gewidmet sind, verdient das Stabat Mater besondere Aufmerksamkeit. Über seinen Inhalt hinaus beeindruckt dieser in lateinischer Sprache verfasste Betrachtungstext vor allem wegen seines poetischen Stils, der einem Gedicht gleichkommt. Der Hymnus besteht aus zehn dreizeiligen Doppelstrophen, deren Reim- und Rhythmikstruktur strengstens eingehalten wird. Der Marienverehrer kann bereits in den Worten der ersten Strophe "Stabat Mater dolorosa, juxta crucem lacrimosa, dum pendebat Filius" den Inhalt der Meditation erkennen, nämlich die unter dem Kreuz ihres Sohnes stehende Mutter. Der Charakter dieses Textes weist darauf hin, dass er ursprünglich eher für den privaten Gebrauch gedacht war. Durch seine Bildsprache und dichterische Struktur lässt er sich schnell einprägen und auswendig lernen. Der Verehrer der Schmerzensmutter hat somit jederzeit die Möglichkeit sich in Gedanken in die Schule Mariens zu begeben, damit sie sein Herz fähig mache zum Mitleid.

Die Herkunfts- und Verfasserfrage des Textes kann man immer noch nicht eindeutig beantworten. Mit dem passionsmystischen Inhalt führt seine Entstehungsspur nach Italien ins XII.-XIV. Jahrhundert. Eine lebhafte Marienfrömmigkeitsbewegung jener Zeit ist wohl bekannt. Die erste Verwendung dieses Gebetes wird in den franziskanischen Kreisen vermutet, und zwar durch die sogenannten Lobpreissänger und die Bruderschaften, die solche Lieder bei Andachten und Prozessionen gebetet und gesungen haben. Die Tradition sieht den Verfasser in mehreren Personen, etwa in Papst Innozenz III. (+1216) oder in den Franziskanerbrüdern Bonaventura da Bagnoreggio (+1274) und Jacopone da Todi (+1306). In der Tradition wurde überwiegend Jacopone da Todi als Verfasser angesehen, der in seiner Zeit als bedeutender religiöser Dichter mit einem Einfühlungsvermögen für die Thematik der Leiden Christi und Mariens galt. Er ist auch dadurch bekannt, dass er sich im Schreiben nicht ausschließlich auf die lateinische Sprache, sondern auch auf die umbrische Volkssprache einließ. Die neueren Forschungen neigen allerdings dazu, den Verfasser eher in Bonaventura zu sehen, welcher als anerkannter Theologe, Kirchenlehrer und Heiliger in die Geschichte eintrat.

Der liturgische Gebrauch des Textes ist seit dem XV. Jahrhundert bekannt, wie z.B. in einem Brevier aus Arezzo von 1417. Später kommt das Stabat Mater als dem Evangelium vorausgehende Sequenz in die Messe und als Hymnus ins Offizium des Festes der Sieben Schmerzen Mariens. Dieses Fest wurde ursprünglich 1667 den Serviten für den 3. September-Sonntag gestattet, 1814 allgemein eingeführt und 1913 auf den 15. September verlegt. Im Jahre 1727 bei der Einführung des zweiten Schmerzensfestes "Maria unter dem Kreuz", das am Freitag vor dem Palmsonntag gefeiert wird, kommt diese Sequenz ins Römische Missale von Pius V. Mit seiner liturgischen Verwendung wird das Stabat Mater auch zum Objekt der Musik; die älteste Hymnenmelodie stammt aus dem XV. Jahrhundert. In den späteren Jahrhunderten gab es weitere Vertonungen, welche als Choralmelodien, Motetten, Passionslieder, Oratorien oder gar Kompositionen für große Ensembles verbreitet sind. Deutsche Übersetzung dieses Andachtstextes gibt es seit Ende des XIV. Jahrhunderts. Inzwischen sind mehrere Übertragungsversionen vorhanden, unter ihnen die von Heinrich Bone (1847), welche sich als Strophenauswahl im Gotteslob Nr. 584 finden lässt.

Inhaltlich und thematisch lassen sich in diesem Andachtstext zwei Einheiten erkennen. Die erste Einheit wird von den ersten vier Doppelstrophen gebildet. Sie beschreiben das Szenario auf dem Kalvarienberg, wo die in Leid und Schmerz versunkene Mutter Christi den Todeskampf ihres gekreuzigten Sohnes betrachtet. Der Verfasser stellt hier die Frage, ob ein Mensch angesichts dieser Trauerszene überhaupt empfindungslos bleiben könne, nicht zuletzt, weil solche Tragödie Frucht seines schuldhaften Verhaltens ist. Den zweiten Teil bildet eine Reihe von Bitten, die der Verfasser bzw. der Betende ausspricht, indem er sich in den nächsten drei Doppelstrophen zuerst an Maria als Mutter wendet und sie dann in den letzten drei Doppelstrophen als Jungfrau der Jungfrauen anruft. Er bittet die Mutter Maria, sie möge sein Herz in Liebe zu Christus entflammen lassen, die Wunden des Gekreuzigten in sein Herz drücken und ihn an ihrem Mitleid teilhaftig machen. Von Maria, der Jungfrau der Jungfrauen, erbittet er die Fähigkeit, mit ihr weinen zu können, Christi Leid und Tod mitzutragen und sich von seinen Wunden berühren zu lassen. Diese Liebes- und Mitleidseinstellung soll ihn zum „brennenden“ Menschen machen und als solcher bittet er, dass die Jungfrau ihn am Tag des Gerichts verteidige und ihm die ewige Herrlichkeit vermittle.

Dieser Betrachtungstext wird als Einzelandacht in verschiedenen Gebetsgemeinschaften und auch privat gerne rezitiert und gesungen, allerdings wird er häufig auch mit anderen Andachten kombiniert, wie z.B. dem Kreuzweg oder dem Leidensweg Mariens.

fr. Fero M. Bachorík OSM