Marienikonen Maria in Erwartung der Geburt, Servitenbasilika in Bologna
In der sakralen Kunst war es nicht von Anfang an üblich, bestimmte Glaubensinhalte anschaulich und explizit darzustellen, nicht zuletzt deshalb, weil dies aus verschiedensten Gründen nicht erwünscht, ja sogar unzulässig war. Zu solchen Tabu-Bereichen gehörte auch die Darstellung der schwangeren Gottesmutter. Die ersten Gemälde dieser Art, genannt „Die Jungfrau in Erwartung der Geburt“, entstanden in der Toskana in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Ein Bildzeuge solcher Darstellungsart befindet sich auch in der Servitenbasilika S. Maria in Bologna. Es ist ein aus dem Jahr 1355 stammendes Fresko des berühmten Künstlers Vitale da Bologna. In der Basilika kann man es an der Säule links von der Orgel bewundern. Das Bild führt dem Betrachter eine Frau vor Augen, die ihm gegenüber sitzt, und deren Körperhaltung leicht nach rechts ausgerichtet ist. Sie hat ein hellbraunes Kleid ohne Gürtel an, dessen Konturen ihren stark gewölbten Mutterleib deutlich sichtbar werden lassen. Die etwas auffällig langen Arme der Frau ruhen weit voneinander auf ihren Knien, während auf der Kleidfläche in ihrem Schoß ein geschlossenes Buch frei liegt. Die Frau neigt das Haupt über ihre rechte Schulter und mit ihren halboffenen Augen scheint sie die aus einem Blumentopf heranwachsende Pflanze zu betrachten, der zu ihrer Rechten auf einem hohen Holzständer steht und der die Höhe ihres Mutterleibs erreicht. Ganz vorne zu ihren Füßen sieht man ein kleines unattraktives Wesen, wie es mit erhobenen Armen und zornigem Gesichtsausdruck die Frau anblickt. Diese schwangere Frau ist die Jungfrau Maria. Abgesehen davon, dass um ihr Haupt ein strahlender Heiligenschein leuchtet, ist es vor allem das Buch in ihrem Schoß, das sie im Unterschied zu anderen Schwangeren als Gottesmutter erkennbar macht. Die Botschaft dieser Darstellung ist nämlich glaubensbezogen und will nicht nur symbolisch, sondern auch anschaulich zum Ausdruck bringen, dass das von Maria vernommene Wort Gottes in ihr Fleisch angenommen hat und Mensch geworden ist. Somit wird das Geheimnis der Menschwerdung Christi auf eine neue Weise und mit entsprechender Symbolik veranschaulicht. Die Darstellungsdynamik der Ikone geht von dem im Schoß Mariens liegenden Buch aus, d.h. von dem Worte Gottes, das gleichzeitig ihren Mutterleib berührt und in ihm Menschengestalt annimmt. Die Körperhaltung der hochschwangeren Maria spricht von einer Vertiefung in sich; Maria bewahrt alles, was geschehen ist, in ihrem Herzen und denkt darüber nach (vgl. Lk 2,19.51): die Verkündigung des Engels (Lk 1,28-37), die Heimsuchung bei Elisabeth (Lk 1,39-56). Sie kennt jedoch auch die Heilige Schrift des Alten Bundes und denkt über die vielen Worte nach, die über das Kommen des Messias gesagt wurden. Die Pflanze erinnert beispielsweise an folgende Prophetenworte: "Denn wie die Erde die Saat wachsen lässt und der Garten die Pflanzen hervorbringt, so bringt Gott, der Herr, Gerechtigkeit hervor und Ruhm vor allen Völkern” (Jes 61,11), und: "Aus dem Baumstumpf Isais wächst ein Reis hervor, ein junger Trieb aus seinen Wurzeln bringt Frucht” (Jes 11,1). Einer solchen Pflanze ähnlich kommt der Messias in diese Welt, leise und unauffällig; damals durch Maria, heute durch alle, die das Wort Gottes aufnehmen und das Evangelium verwirklichen. Das Kommen des Messias jedoch wird nicht von jedermann begrüßt: Das kleine zornige Wesen zu Marias Füßen scheint diese Ankunft Jesu verhindern zu wollen. Das Böse ist heute wie damals aktiv, aber weit schwächer als die Macht der messianischen Frohbotschaft. Dieser andauernde Zustand wird im Buch der Offenbarung bildhaft beschrieben: “Der Drache stand vor der Frau, die gebären sollte; er wollte ihr Kind verschlingen, sobald es geboren war” (Offb 12,4). Allerdings ist es ihm nicht gelungen. Er kann lediglich versuchen, die treuen Christen einzuschüchtern: “Und er ging fort, um Krieg zu führen mit ihren übrigen Nachkommen, die den Geboten Gottes gehorchen und an dem Zeugnis für Jesus festhalten” (Offb 12,17). Somit lädt diese Ikone ihren Betrachter nicht nur zur Bewunderung des Geheimnisses der Menschwerdung Christi ein, sondern auch zur Wachsamkeit und zur Standhaftigkeit im Glauben. fr.Fero M. Bachorík OSM |