DIE SEELSORGE AUS MARIANISCHER SICHT
Die Generationen der Katholiken vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) konnten sich unter dem Begriff Seelsorge eine viel konkretere Vorstellung machen als die spätere und die heutige Generation. Während sich die Seelsorge vor dem genannten Konzil hauptsächlich auf die theologischen Prinzipien stützte und häufig nur auf die moralische Erziehung der Kirchentreuen durch Sakramente, Predigt und Religionsunterricht konzentrierte, nahm sie nach dem Konzil die ganze Gesellschaft und ihre Errungenschaften mit ins Visier. Ein Zitat aus dem Konzilsdokument Gaudium et Spes möge dies verdeutlichen: "In der Seelsorge sollen nicht nur die theologischen Prinzipien, sondern auch die Ergebnisse der profanen Wissenschaften, vor allem der Psychologie und der Soziologie, wirklich beachtet und angewendet werden, so dass auch die Laien zu einem reineren und reiferen Glaubensleben kommen" (GS 62). Das Konzil möchte mit dieser Aussage darauf aufmerksam machen, dass ein reines und reifes Glaubensleben nicht möglich sein wird, wenn wir uns in unserem "Eh-Schon-Wissen" verschließen. Der menschliche Geist, die menschliche Seele können es sich einfach nicht leisten, die neuen Erkenntnisse sowohl der religiösen als auch der nicht religiösen Wissenschaften zu ignorieren. Wenn also von der Seelsorge die Rede ist, dann ist damit einerseits die Sorge um die eigene Seele, um den eigenen Geist und ja, auch um den eigenen Leib gemeint, denn ohne das eine oder das andere kann der Mensch nicht bestehen, andererseits aber auch die Sorge um die Seele, den Geist und die Gestalt der ganzen Gesellschaft, in der wir leben.
Wer gewohnt ist, die eigene Lebensinspiration aus der Heiligen Schrift zu schöpfen, der wird bemerkt haben, dass auch die Mutter Jesu auf ihre Seelsorge bedacht war. Ja, sie sorgte sich um ihre Seele, um ihren Geist und nährte sie mit Vertrauen, Hoffnung und Freude aus dem Quell der Verheißungen, nämlich den Heiligen Schriften ihres Volkes, die dem Volk bei liturgischen Versammlungen vorgelesen wurden. Deshalb konnte sie das Positive in ihrer Seele tragen und auch in Worten zum Ausdruck bringen: "Meine Seele preist die Größe des Herrn und mein Geist jubelt über Gott meinen Retter" (Lk 1,46). Sie gab sich mit dem bisher Gehörten und Gelernten jedoch nicht zufrieden, sondern bildete ihren Geist weiter, nicht zuletzt durch Worte und Beispiel ihres Sohnes, dem sie selbst nachgefolgt ist (vgl. Joh 2,12). Sie war bemüht alles, was für sie wichtig war, weiter zu betrachten und zu reflektieren (vgl. Lk 2,19.51). Auch die Sorge um ihr leibliches Wohl soll nicht unerwähnt bleiben. Als Beispiel dazu dient die Anwesenheit Mariens bei der Hochzeit zu Kana (vgl. Joh 2,1). Hochzeit ist bekanntlich keine Trauerveranstaltung, sondern ein Fest, bei dem gegessen, getrunken, gesungen und getanzt wird, bei dem sich es die Gäste - Maria inbegriffen - wohl gehen lassen, sich des Lebens freuen und ihre Freude miteinander teilen. Ja, auch dies gehört zur persönlichen und sozialen Seelsorge. Eine weitere Dimension der Seelsorge im Leben Mariens stellen die religiösen Übungen ihres Volkes dar wie Feste, Opfer, Jahreswallfahrten (vgl. Lk 2,22-24.41), die Maria in ihrem Leben pflegte. Diese und weitere Hinweise aus den Evangelien und der Apostelgeschichte (vgl. Apg 1,14) lassen uns erkennen, dass Maria am Leben ihrer Gesellschaft aktiv beteiligt war. Dies hielt die Seele, den Geist und auch den Leib Mariens gesund und wachsam, lern- und aufnahmefähig. Diese Eigenschaften sind nämlich eine wichtige Voraussetzung dafür, damit die Seelsorge für die anderen respektsvoll und angemessen getätigt werden kann. Maria gibt uns auch in diesem Bereich wertvolle Beispiele: Sie erfährt, dass ihre Verwandte schwanger ist, eilt sie zu besuchen und weil sie ahnt, dass die betagte Schwangere ihre Hilfe benötigen kann, bleibt sie bei ihr mehrere Monate (Lk 1,39-56); Bei der Hochzeit zu Kana macht sie ihren Sohn diskret darauf aufmerksam, dass der Wein ausgegangen ist (Joh 2,3) und bewahrt dadurch die Brautleute vor einer peinlichen Situation; Unter dem Kreuz leistet sie ihrem sterbenden Sohn einen tröstenden Beistand (Joh 19,25). Aus den genannten Einblicken in das Leben Mariens wird erkennbar, dass eine Seelsorge das Wohl und das Heil der Menschen vor Augen haben muss. Dabei ist es wichtig, dass man sich die erforderliche Zeit für sich und für die anderen nimmt, um eben die nötige Aufmerksamkeit der Seele, dem Geist und auch dem Leib zu erweisen. In diesem Sinne können und sollen wir alle für sich selbst und auch füreinander Seelsorger und Seelsorgerinnen sein.
fr. Fero M. Bachorík OSM |